Warum Lernprozesse natürlich und individuell sein sollten

  • von antje.behr@inletrain.de
  • 30 Nov., 2022

Natürliches vs. initiiertes Lernen

Inhalte

  1. Natürliches vs. Initiiertes Lernen - Warum gleichgeschaltetes Lernen nicht funktioniert
  2. Individuelle Lernvoraussetzungen - Lernende da abholen, wo sie stehen
  3. Individuelles und selbstorganisiertes Lernen fördern
  4. Rollenwechsel vom Lehrenden zum Lernbegleiter


1. Natürliches vs. Initiiertes Lernen - Warum gleichgeschaltetes Lernen nicht funktioniert

Natürliches Lernen ist selbstbestimmtes und individuelles Lernen. Individualpädagogische Ansätze gibt es bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ziel dieser Ansätze ist es, Lernende individuell gemäß ihren Möglichkeiten zu fördern und sie selbstbestimmt lernen zu lassen.

Wir sind es gewohnt, dass spätestens ab der Einschulung natürliches Lernen passé ist und wir in initiierten und gleichgeschalteten Lernsettings „lernen“ müssen. Wir wissen jedoch aus der Lernforschung und Neurowissenschaft, dass gleichgeschaltetes Lernen nicht funktioniert. Es ist schlicht und ergreifend unnatürliches „Lernen“.

Beginnt ein Kind seine Welt zu entdecken, macht es das automatisch ohne unser Zutun - es lernt natürlich. Es versucht zu krabbeln, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen, seinen Kopf zu heben, sich an Gegenständen hochzuziehen, auf Stühle zu klettern, die erste Schritte zu machen usw.

In der Regel legen wir nicht 20 Babys gemeinsam zu einem bestimmten Zeitpunkt auf den Boden eines Raumes und lassen von einem Lehrer via Frontalvortrag erklären, wie Krabbeln, Umdrehen, Klettern oder Laufen funktionieren. Das braucht es nicht. Denn wir lernen von selbst, jeden Tag gemäß dem Prinzip "Ausprobieren" und es funktioniert.

Wieso verabschieden wir uns dennoch tagtäglich in unseren Schulen und den Praxis-Lernorten von diesem funktionierenden Prinzip?

Ab der Einschulung wird natürliches Lernen meist nicht mehr zugelassen. Das erklärt, warum es in einer Klasse immer Lernende gibt, die überfordert oder unterfordert sind. Wenn allen Lernenden zur gleichen Zeit, im gleichen Tempo, mit der gleichen Methode, die gleichen Inhalte mit den gleichen Lernzielen gelehrt werden, brauchen wir uns nicht wundern, wenn viele Lernende auf der Strecke bleiben.

Gleichgeschaltetes Lernen kann sehr frustrierend sein, insbesondere für diejenigen, die dabei über- oder unterfordert sind. Das sind immerhin zwei Drittel aller Lernenden. 

„Würden wir Kindern das Sprechen beibringen, dann würden sie es nie lernen.“ So formulierte es J. Holt in einem seiner Kinderbücher sehr treffend. Lernen ist ein natürlicher und individueller Prozess. Wir lernen von früher Kindheit an stetig dazu und konstruieren täglich durch (Lern-) Erfahrungen unsere eigene Welt - ohne dass uns jemand dazu zwingen muss. Wir tun dies allein deshalb, weil wir bestimmten „Lerninhalten“ eine Wertigkeit beimessen und darin eine Bereicherung für unser Leben sehen, wie in Holts Beispiel, das Sprechen zu lernen. 

Konsequent wäre es, neue Lernkonzepte, welche die Individualität unserer Lernenden berücksichtigen und die Relevanz der Lerninhalte herausstellen, zu entwickeln. Machen wir uns also auf: Weg vom gleichgeschalteten Lehrprinzip - Hin zum individuellen selbstorganisierten Lernprozess.


2. Individuelle Lernvoraussetzungen - Lernende da abholen, wo sie stehen

Im Verlauf unserer Bildungsbiografie machen wir unterschiedliche Lernerfahrungen und wissen selbst am besten, was wir benötigen, um nachhaltig zu lernen. Fakt ist eines: Wir lernen alle unterschiedlich, je nachdem wie wir sozialisiert wurden und uns sozialisiert haben. Erziehungswissenschaftler unterscheiden Lernvoraussetzungen in sozio-kulturelle und anthropologisch-psychologische Bedingungen. Was sich dahinter verbirgt, ist all das, was Lernende an Merkmalen, Eigenschaften und Vorerfahrungen in Lernprozesse mitbringen.

Da gibt es Lernende, die am liebsten allein lernen und sich dafür zurückziehen müssen. Es gibt Lernende, die nur mit Unterstützung effektiv lernen. Einer braucht Ruhe, ein anderer Musik, um zu lernen, einer markiert sich Textpassagen, ein anderer fertigt sich Notizen oder Skizzen an, wieder andere müssen etwas praktisch umsetzen, um es zu begreifen usw.

Lernende unterscheiden sich im Lerntypus, in der Lernmethodik, im Lerntempo, in Lernmotivation und Lernemotion, in Vorwissen und Erfahrungen, in Lernfähigkeit und Lernbereitschaft. 

Wenn unsere Lernenden unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen, erscheint es mir wenig sinnvoll, alle methodisch, inhaltlich und zeitlich gleichzuschalten. Es braucht also neue individuelle Lernkonzepte, wenn wir natürliches Lernen nicht durch Gleichschaltung zerstören wollen. 

Stimmen wir Lernsettings nicht auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden ab, kommt es zur typischen Trennung zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Lernenden. Den Leistungsschwachen geht alles viel zu schnell, sie verlieren regelmäßig den Anschluss. Den Leistungsstarken geht es nicht schnell genug, sie langweilen sich und sind unterfordert. 

Holen wir Lernende endlich da ab, wo sie stehen. Geben wir ihnen im Lernprozess das, was Sie brauchen, um ihre Lernziele zu erreichen. Nehmen wir Abstand davon, einzufordern, was sie alles schon können und nicht mehr benötigen.


3. Individuelles und selbstorganisiertes Lernen fördern

Tragen wir der Individualität der Lernenden Rechnung, müssen wir die Verantwortung für den Lernprozess zwingend in die Hand der Lernenden abgeben. Sie allein wissen, was sie brauchen und was nicht. Wir wissen als Lehrende und Praxisanleiter in der Regel nur sehr wenig bis gar nichts über die individuellen Lernvoraussetzungen unserer Lernenden. Wieso maßen wir uns dennoch immer wieder an, unseren Lernenden vorzugeben, was sie wann und mit welcher Methode zu lernen haben? 

Ist es nicht sinnvoller, ihnen die Anforderungen ihrer Ausbildung transparent zu machen, den Rahmen dafür abzustecken, sie zu motivieren, sich individuell Lernziele zu stecken und sie dabei zu unterstützen, diese zu erreichen? Warum lassen wir ihnen nicht den Freiraum selbst zu entscheiden, wie sie methodisch vorgehen, welche Lerninhalte sie vertiefen, wie sie sich zeitlich strukturieren, um ihre Lernziele zu erreichen und wann sie ggf. Unterstützung beanspruchen? 

Der Kerngedanke des selbstorganisierten natürlichen Lernens ist es, Lernen als individuellen Prozess im Gehirn jedes Lernenden zu begreifen. Lernen knüpft an die individuellen Erfahrungen der Lernenden an und verschafft ihnen neue Perspektiven auf Lerninhalte. Über das Verschränken von Erfahrungen und Perspektiven der Lernenden untereinander konstruieren sie sich neues Wissen. Lernen ist ein individueller Konstruktionsprozess, der im Gehirn der Lernenden stattfindet. Daraus resultiert, dass Lernprozesse nicht synchronisiert werden können und ein Umdenken in Schule und Praxis stattfinden muss. 

Es lohnt sich, die Verantwortung den Lernenden zu übertragen. Es verhindert deren Über- und Unterforderung. Autonomie weckt zudem die Lernmotivation und vermeidet Frust bei allen Beteiligten. Dazu bedarf es für uns selbst eines Rollenwechsels.


4. Rollenwechsel vom Lehrenden zum Lernbegleiter

In initiierten und gleichgeschalteten Lernsettings gibt es in der Regel eine Person - den Lehrenden, der frontal etwas erklärt oder etwas vorführt und so vermeintlich "Wissen" vermittelt. Wir wissen inzwischen, dass im Frontalunterricht weniger 10 Prozent des "Wissens" beim Lernenden hängenbleiben. Also ist die Wissensvermittlung in solchen Settings doch stark anzuzweifeln. 

Das glauben Sie nicht? Machen Sie einen einfachen Test und versuchen Sie wiederzugeben (ohne nachzuschauen), was Sie im 1. Abschnitt meines Blogs gelernt haben. 

...

Ist es Ihnen gelungen? Ich vermute nicht oder nur in begrenztem Maße. 

Ja, auch das, was ich hier in meinem Blog mache, ist streng genommen gleichgeschaltetes Lernen, zumindest was die Methode angeht. Alle Blogleser sitzen an irgendeinem Endgerät, lesen ein und denselben Text, bleiben bei der Methode "Lesen und Textverständnis" verhaftet. Das ist das Wesen eines Blogs. Der hat nicht den Anspruch, dass Sie ihn am Ende identisch wiedergeben können. 

Aber wie oft verlangen wir von unseren Lernenden genau das - etwas 1:1 wiederzugeben, was Sie von uns vermeintlich vermittelt bekommen haben - wohlgemerkt frontal und gleichgeschaltet? 

Bahnen wir berufliche Handlungskompetenz an und entwickeln selbstreflektierte zukünftige Fachkräfte, dann müssen wir zwingend von initiierten zu natürlichen Lernformen wechseln. Das heißt für uns, nicht mehr zu lehren und alles "vorzutanzen". Denn Lehren und "Vortanzen" erzeugt bestenfalls auswendig gelerntes "Fachwissen" (frontal vermittelt bleibt nicht hängen und wird zwangsweise auswendig gelernt), aber keine berufliche Handlungskompetenz.

Bieten wir Lernenden künftig Lernsettings an, in denen sie natürlich und selbstorganisiert sich das aneignen, was Sie benötigen, um beruflich handlungsfähig und selbstreflektiert zu werden. Das bedeutet für uns, Lernbegleiter zu werden und unsere Komfortzone "Lehrender" zu verlassen. 

Lernbegleiter stecken den Rahmen für Ausbildungsziele ab, stellen den Mehrwert eines Lerninhaltes heraus und wecken so die Lernmotivation beim Lernenden. Lernbegleiter bieten Lernsettings aus Anleitungen, Orientierungshilfen und unterschiedlichen Methoden an. Sie lassen Freiraum, um individuell zu lernen und auszuprobieren. Sie unterstützen Lernende wo nötig und beraten sie, wenn erforderlich. Lernbegleiter lehren nicht, sie stecken keine eng begrenzten Zeitfenster für identische Lernergebnisse, sie zwingen auch nicht alle Lernenden in ein und dieselbe Methode und schalten Lernende nicht gleich. 

M. Rosenberg beschreibt Lernprozesse als Reise. Er sieht sich selbst in Schulen, in denen er unterrichtet, nicht als Lehrenden, sondern eher als „Reiseveranstalter“. „Lehren heißt, den Schülern Lust aufs Reisen zu machen.“, so Rosenberg. Ein Reiseveranstalter bietet Reisen an und spricht Empfehlungen für Reiseziele und Sehenswürdigkeiten aus. Er schlägt Reisemittel und Reiserouten vor und plant individuell die Reise für seine Kunden. Ein Reiseveranstalter erwartet jedoch nicht, dass alle seine Kunden zur selben Zeit über dieselbe Route an denselben Ort reisen und sich dort mit denselben Sehenswürdigkeiten beschäftigen. Und: Er fährt nicht mit. Sondern der Kunde geht selbstständig auf die Reise und schaut sich die Sehenswürdigkeiten an, die er noch nicht kennt und wählt die für sich passende Route mit dem für ihn geeignetsten Reisemittel. 

Ob unsere „Kunden“ in Lernprozessen die Reise zum empfohlenen Lernziel antreten, mit welcher Methode, wann und in welchem Tempo sie das tun, ob allein oder in Gesellschaft, das ist der Individualität der Lernenden zu überlassen. Wir sprechen Empfehlungen aus und schaffen die Rahmenbedingungen. Wir machen ihnen das Lernziel schmackhaft und verleihen den Sehenswürdigkeiten einen Mehrwert. Aber was davon sie in Anspruch nehmen, obliegt der Freiheit und der Individualität der Lernenden. Vor diesem Hintergrund machen sich Lernende ungezwungen und freiwillig auf die Reise, um sich neue Lernziele und Wissen zu erschließen, abgestimmt auf ihre individuellen Bedürfnisse.


Fazit

Initiierte Lernsettings müssen durch natürliche Lernformen ersetzt werden, wollen wir selbstreflektierte und eigenverantwortliche Fachkräfte ausbilden, die in Ihrem Beruf handlungskompetent sind. So holen wir alle Lernende da ab, wo sie stehen, schaffen Freude am Lernen und verhelfen ihnen zu individuellen Lernerfolgen. Wir geben Lernenden ihre Autonomie zurück, die wir schon viel zu lange für uns beanspruchen. 


Literatur

Arnold, R., Prescher, T., & Stroh, C.; Ermöglichungsdidaktik konkret: Didaktische Rekonstruktion ausgewählter Lernszenarien, 1. Ausg., Bd. 11; Verlag Schneider Hohengehren; Baltmannsweiler, 2014.

Becker, N.; Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik; Klinkhardt Verlag; Bad Heilbrunn, 2006.

Behr, A. Diplomarbeit: Konflikte in der Weiterbildung - Ursachen und Konsequenzen; Berlin, 2013.

Dietrich, S.; Selbstgesteuertes Lernen in der Weiterbildungspraxis - Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Projekt SeGeL.; Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (Hrsg.); abgerufen am 29.11.2022 von https://www.die-bonn.de/doks/dietrich0101.pdf

Greif, S., Kurtz, H.-J.; Handbuch Selbstorganisiertes Lernen, 2. Auflage, Verlag für angewandte Psychologie, Göttingen, 1998.

Edelmann, W; Lernpsychologie; 6. Auflage; Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 2000.

Herold C., Herold M.; Selbstorganisiertes Lernen in Schule und Beruf; 3. Auflage, Beltz-Verlag, Weinheim und Basel, 2017.

Quilling, K.; Ermöglichungsdidaktik. (DIE Deutsches Institut für Erwachsenenbildung); abgerufen am 28.11.2022 von https://www.die-bonn.de/wb/2015-ermoeglichungsdidaktik-01.pdf 

Rosenberg, B. M.; Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation; 15. Ausg.; Herder Verlag; Freiburg im Breisgau, 2012.


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